Fischer: Zur Entwicklung von Fallpauschalen und Sonderentgelten in Deutschland.

Z I M       Okt. 1998


Zur Entwicklung von
Fallpauschalen und Sonderentgelten
in Deutschland

Wolfram Fischer

Zentrum für Informatik und wirtschaftliche Medizin
CH-9116 Wolfertswil SG (Schweiz)
http://www.fischer-zim.ch/


Auszug aus der Studie:
DRGs im Vergleich mit LDF und FP/SE, S. 19-22
(978-3-9521232-3-2)

      
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In Deutschland kam die Diskussion über die Notwendigkeit einer Reform des Gesundheitswesens insbesondere nach dem Regierungswechsel von 1982 ins Rollen. Zur gleichen Zeit wurde in den USA die Einführung von sogenannten prospektiven Ver­gütungs­systemen diskutiert. 1983 wurde dort eines der entwickelten Systeme – das HCFA-DRG-System – als Basis für die Fall­pauschalen der Medicare-Ver­siche­rung eingeführt.

1

1 Die Aufenthaltsdauern wurden bei der Bildung der ersten DRG-Systeme als Homogenitätsmass verwendet.

2 Nach Neubauer et al. [Fallgruppenbildung, 1987]: 30.

DRG-Prüfung

In Deutschland erfolgte eine erste Prüfung der DRGs (Diagnosis Related Groups) bereits 1986. Die Beurteilung fiel negativ aus. Nebst der unbefriedigenden Erfassung von Begleit­erkran­kungen (Multi­morbidität) und der fehlenden Abbildung des Schwere­grades der behandelten Erkrankung wurde u. a. festgestellt, dass die Aufenthaltsdauern1 innerhalb der dreistelligen ICD-9-Kategorien nicht stärker streuten als innerhalb der damaligen HCFA-DRGs. Es wurden dazu knapp 200'000 Fälle aus 31 Akutkrankenhäusern untersucht. Zur Codierung waren 477 unter­schied­liche dreistellige ICD-9-Codes nötig, d. h. die An­zahl der ICD-9-Fall­gruppen war etwa gleich hoch wie bei den DRGs mit damals 470 Gruppen. Während nur 27.5 % der nach ICD-9 klassifizierten Fälle einen Varia­tions­koeffi­zien­ten von mehr als 100 % aufwiesen, waren es bei den ameri­ka­nischen Testdaten mit 2 Mio. Akutfällen 40 % und bei 108'000 portugiesischen Fällen sogar 45 %.2

2

3 Neubauer et al. [PMC-Ergebnisse, 1992]; Neubauer et al. [PMC-Prüfung, 1992].

4 Neubauer et al. [PMC-Innere Medizin, 1992].

PMC-Studie

In der Folge wurde das alternative System der Patient Management Categories (PMC) auf deutsch übersetzt und geprüft. Die umfangreiche Studie unter Leitung von Prof. G. Neubauer wurde 1990 beendet.3 Sie enthält u. a. auch Anpassungsvorschläge für die PMCs. Es folgten weitere Studien einzelner Fachgebiete, u. a. in der Inneren Medizin, einem für Patienten­klassifi­kations­systeme besonders kritischen Gebiet.4

3

Eigenes System

Aufgrund dieser Arbeiten entschied man sich schlussendlich für ein eigenes, sukzessiv aufzubauendes System, das sich von der Konstruktion her an die PMCs anlehnt. Übernommen wurde insbesondere der Grundsatz, dass es nicht genügt, chirur­gische Behand­lungs­fall­gruppen allein aufgrund von Angaben zur Opera­tion zu definieren, sondern dass auch die Haupt­diagnose berücksichtigt werden muss. Vorläufig wurden nur chirur­gische Eingriffe klassifiziert. Dies geschah wegen der relativ guten Verbindungsmöglichkeit chirur­gischer (Routine-) Behand­lungs­fall­gruppen mit Behand­lungs­pfaden.

4

5 BMG-D [Weiter­entwick­lung FP-SE, 1997].

BPflV 1995:
Fall­pauschalen und Sonder­entgelte

Die Arbeiten mündeten in das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in der Bundespflegesatzverordnung '95 (BPflV 1995) festgehaltene FP/SE-System. Gleichzeitig wurde 1995 auch eine neue Proze­duren­klassi­fi­kation – die ICPM – eingeführt. In der 3. Veränderungsverordnung zur BPflV sind 73 Fall­pauschalen und 147 Sonder­entgelte definiert (gültig ab 1.1.96). Mit der 5. Veränderungsverordnung, welche ab 1.1.98 gültig ist, wurden gewisse Fall­pauschalen und Sonder­entgelte neu definitiert, neu berechnet und/oder aufgeteilt. Damit sollte u. a. übermässigen Zahlungen bei Dilatationen und Linksherzkatheder (SE Gruppen 20 und 21), in der Transplantationsmedizin und bei Frühverlegungen in Rehabilitationskliniken oder in die Akutgeriatrie entgegengewirkt werden.5 Es gibt nun 94 Fall­pauschalen und 146 Sonder­entgelte.

5

 

Aus Sorge vor Mengenausweitungen und vor finanziellen Problemen gewisser Kranken­häuser wurde gezögert, die Überschüsse bzw. Mindereinnahmen aus FP- und SE-Abgeltungen nicht mehr mit dem verhandelten Krankenhausbudget zu verrechnen. Ursprünglich war vorgesehen, dieses sogenannte «Erlösabzugsverfahren» nur bis Ende 1997 anzuwenden. Nun wurde es bis Ende 1999 verlängert (BPflV § 12 Abs. 2).

6

Übergabe der Weiter­entwick­lung der Entgeltkataloge an die «Selbst­verwal­tung»

In der 5. Änderungsverordnung ist auch festgehalten, dass die Weiter­entwick­lung der Entgeltkataloge für Fall­pauschalen und Sonder­entgelte ab dem 1.1.1998 der Selbst­verwal­tung übertragen wird. An der Selbst­verwal­tung [vgl. Tafel 1] beteiligen sich auf Versicherungsseite die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung und der Verband der privaten Krankenversicherung, auf Krankenhausseite die Deutsche Krankenhausgesellschaft (BPflV 1995 § 15 Abs. 1).

7

Tafel 1:
Selbst­verwal­tung

Die Idee der «Selbst­verwal­tung» hat in Deutschland – u. a. gerade im Bereich des Gesundheitswesens – eine lange Tradition. Selbst­verwal­tung bedeutet eine Auslagerung primär hoheitlicher Aufgaben auf gesellschaftliche Träger. Politische Macht wird so nach inhaltlichen Kriterien dezentralisiert. (Gemäss Neubauer et al. [Selbst­verwal­tung, 1984]: 4ff.) Die Idee der Selbst­verwal­tung ist verwandt mit dem, was heute mit Begriffen wie «New Public Manage­ment», «wirkungsvolle Verwaltungsführung» u. ä. bezeichnet wird. Selbst­verwal­tung umfasst auch die juristische Kompetenz ihrer Träger und geht über rein organisatorische Fragen hinaus. Sie untersteht gewöhnlich einer staatlichen Rechtsaufsicht, oft verbunden mit Eingriffskompetenz in wichtigen Bereichen. – Mit der Schaffung eines institutionell verankerten Koordinationsmechanimus' zur Weiter­entwick­lung der Entgeltkataloge wurde ein weiterer Schritt zur gemein­samen Selbst­verwal­tung des bisher noch stark staatlich gebundenen stationären Bereichs gemacht.

8

6 Tuschen/Dietz [FP-SE-Ent­wick­lung, 1998]: 62.

7 80 % in der Herzchirurgie, jeweils über 50 % in den übrigen genannten Fachabteilungen [gemäss pers. Brief von U. Dietz/BMG vom 23.1.98.].

Aktuelle Situation

Im zweiten Jahr der flächendeckenden Anwendung des FP/SE-Systems – 1996 – wurden ca. 20 % bis 25 % der Krankenhausumsätze mittels Fall­pauschalen und/oder Sonderentgelten abgerechnet.6 Je nach Art der Fachabteilung schwankte dieser Anteil. Jedenfalls wird mit dem FP/SE-System bei weitem keine vollständige Deckung erreicht, wenn auch in gewissen Fachabteilungen wie Herzchirurgie, Kardiologie, Gefässchirurgie und Augenheilkunde recht hohe Fallzahlenanteile erreicht wurden.7 Mit der Übergabe der Betreuung der Entgeltkataloge an die Selbst­verwal­tung wird die Frage der Ausformung der Entgelte erneut kontrovers diskutiert. Während zwar mehr oder weniger akzeptiert wird, dass das System ein System mit Behandlungsfallpauschalen sein soll, ist die konkrete Ausgestaltung umstritten:

  • FP/SE-Weiter­entwick­lung? Wenn ja, in welche Richtung?
  • Übernahme eines ausländischen Systems, insbesondere eines der DRG-Systeme? Oder des österreichischen LDF-Systems?

9

8 Vgl. Averill [Data Collection, 1994]; Averill et al. [ICD-10-PCS, 1998]; s. auch Fischer [PCS, 1997]: 112f.

 

Vor der Tür steht ebenfalls die Umstellung auf das Diagnosecodierungssystem ICD-10; allerdings steht noch kein Datum fest. Diese Umstellung wurde bereits in mehre­ren europäischen Ländern vorgenommen. In der Diskussion wird auch die Frage gestellt, ob die erst vor kurzem eingeführte ICPM zur Codierung der ärztlichen Prozeduren, durch das moderne ICD-10-PCS-System abgelöst werden soll. Dieses mehrachsige Codie­rungs­system wird in den USA von der Firma 3M seit 1991 entwickelt und steht momentan im Feldtest.8

10

 

 

 

 

Literaturverzeichnis

 
Averill
Data Collection
1994
Averill R. Organisation of Data Collection and Analysis Using DRGs in USA. In: Roger France FH, Laires M [Eds.]. Communication of Health Care Resource Manage­ment Data in Europe. Recomendations of the Limelette Conference 1992 (Commission of the EU, XIII C-4 Telematics applied to healthcare), Bruxelles 1994: 101–118.

11

Averill et al.
ICD-10-PCS
1998
Averill RF, Mullin RL, Steinbeck BA, Goldfield NI, Grant TM. Development of the ICD-10 Procedure Coding System (ICD-10-PCS). 3M HIS Working Paper 5-98, Wallingford (3M-HIS) 1998: 35 S. Vgl.: http:// cms.hhs.gov / providers / pufdownload / icd10.asp.

12

BMG-D
Weiter­entwick­lung FP-SE
1997
Bundesministerium für Gesundheit [Hrsg.]. Gutachten Weiter­entwick­lung der Fall­pauschalen und Sonder­entgelte nach der Bundespflegesatzverordnung: Bericht zu den Forschungsprojekten im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. Baden-Baden (Nomos) 1997.

13

Fischer
PCS
1997
Fischer W. Patienten­klassifi­kations­systeme zur Bildung von Behand­lungs­fall­gruppen im stationären Bereich. Prinzipien und Beispiele. Bern und Wolfertswil (ZIM) 1997: 514 S. Auszüge: http:// www.fischer-zim.ch / studien / PCS-Buch-9701-Info.htm.

14

Neubauer et al.
Selbst­verwal­tung
1984
Neubauer G, Rebscher H. Gemeinsame Selbst­verwal­tung. Eine ordnungspolitische Alternative für die Gesundheitsversorgung. Spardorf (Wilfer) 1984: 283 S.

15

Neubauer et al.
Fallgruppenbildung
1987
Neubauer G, Sonnenholzner-Roche A, Unterhuber H. Die Problematik einer Fallgruppenbildung im Krankenhaus. In: Krankenhaus Umschau 1987/1: 27–34.

16

Neubauer et al.
PMC-Ergebnisse
1992
Neubauer G, Demmler G, Eberhard G, Rehermann P. Erprobung der Fallklassifikation «Patient Manage­ment Categories» für Krankenhauspatienten. Ergebnisbericht. Baden-Baden (Nomos) 1992: ca. 360 S.

17

Neubauer et al.
PMC-Prüfung
1992
Neubauer G, Demmler G, Eberhard G. Erprobung der Fallklassifikation «Patient Manage­ment Categories» für Krankenhauspatienten. Anlagenbericht: Klinische Überprüfung der Plausibilität für die Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden (Nomos) 1992: 356 S.

18

Neubauer et al.
PMC-Innere Medizin
1992
Neubauer G, Rehermann P, Träger R. Erprobung der Fallklassifikation «Patient Manage­ment Categories» (PMCs) für die Innere Medizin am Kreiskrankenhaus Alt/-Neuötting und dem Diakonissenkrankenhaus Karlsruhe. Baden-Baden (Nomos) 1992: 130 S.

19

Tuschen/Dietz
FP-SE-Ent­wick­lung
1998
Tuschen KH, Dietz U. Ent­wick­lung der Entgeltkataloge für Fall­pauschalen und Sonder­entgelte. In: Das Krankenhaus 1998: 60–69.

20

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Fundstelle = http://www.fischer-zim.ch/auszuege-pcs-diskussion/FP-SE-Hist-9810.htm
( Letztmals generiert: 23.11.2012 )